Das Haus des Försters, in dem der
Fundevogel aus Grimms Märchen zusammen mit seiner Ziehschwester
Lehnchen aufwuchs, muß - so denke ich - in einer Waldlichtung
gestanden sein; auch Rotkäppchens Großmutter hatte
ihr Häuschen mitten im Wald an einer Stelle, wo die Bäume
ausgelichtet waren. Und in den "Studien" Adalbert Stifters
stoßen wir da und dort auf den romantischen Topos des Hauses
im Wald, in dem eine kleine Gruppe von Menschen in trauter Weltabgeschiedenheit
ein ungestörtes Beisammensein pflegt.
Eine Lichtung im finsteren Wald ist
ein von der Geistes- und Kulturgeschichte in vielfältiger
Weise mit Bedeutung bedachter und beschwerter Ort. Darum ist
es für einen engagierten Architekten eine besonders interessante
Aufgabe, wenn ihm ein Bauherr den Auftrag erteilt, für eine
Waldlichtung ein Wohnhaus zu entwerfen. Als Architekt Rudolf
Prohazka den Baugrund erstmals besichtigte, stand darauf ein
in mehreren Phasen errichtetes Wohngebäude von eher trauriger
Gestalt. Der Zugang führt durch einen Hohlweg, und der Ankommende
sieht zunächst außer Bäume gar nichts, muß
eine kleine Geländestufe überwinden und befindet sich
alsbald zwischen locker stehenden Föhren- und Fichtenstämmen.
Das leicht ansteigende Gelände
weitet sich zu einer Wiese, der das alte, verschachtelte Gebilde
den Rücken zeigte. Sowohl konstruktiv als auch bauphysikalisch
war an einen Weiterbestand nicht zu denken. Nun ist Rudolf Prohazka
ein außerordentlich geländefühliger Entwerfer;
zudem fand er an Teilen des Altbestandes Gefallen. Die aus Kalksteinen
grob gefügten Stützmauern, den Kamin und den aus einer
einfachen Holzhütte bestehenden historischen Kern wollte
er bewahren und den Neubau darauf beziehen - oder darum herum
bauen. Damit stellte er sich selbst eine Aufgabe, die unabhängig
von den Wünschen der Bauherrschaft bestand.
Für seinen Entwurf interpretierte
er die Lichtung als Freiraum, der an den Rändern vom Waldsaum
gefaßt wird. Die gesamte Weite der Waldwiese wollte er
mit seinem Entwurf - im übertragenen Sinn - zum Wohnbereich
machen, in dem deutlicher definierte Rückzugsräume
locker zueinandergestellt sind. Dazwischen und darunter liegende
Raumzonen werden durch großformatige Glaswände klimatisch
geschützt, gehen zu gleich fast übergangslos in den
Außenraum über, wie der Blick von der Wohnhalle in
den Gartenhof zeigt. Große Teile der Dachfläche sind
begehbar, über eine Stiege und eine Rampe zu erreichen und
werden somit Teil der Landschaft.
Wir stehen vor einem Gebilde, das nicht
sofort als Haus mit Ziegeldach mit Mauern erkannt werden kann;
ja es scheint sich gegen das verstehen zu sperren, wenn man nur
das Medium der Photographie zur Verfügung hat und der Rolle,
die der Waldlichtung als umgebendem Raum zukommt, nicht gewahr
wird. Das Haus selbst ist nur ein Teil des Ganzen; die Bäume,
die Wiese, der Raum der Lichtung gehören zur Gesamtwirkung.
Die Grundrißkonfiguration läßt
sich als Rechteck beschreiben, das quer zwischen die bestehenden
Bäume gestellt ist, sodaß vorn der Zugang und hinten
die Waldwiese liegt. An den Schmalseiten verdichten sich die
Baumaterialien zu weißen Mauerscheiben und definieren unter
nach innen geneigten, flachen Pultdächern an der einen Seite
(wo auch der Eingang liegt) drei Zimmer und an der anderen Seite
den Kaminplatz. Dazwischen liegt - in einer vornehmlich in Glas
gehüllten Zone - die hölzerne Urhütte des Altbestands
mit Küche und Eßplatz. Sie wird von vier runden Betonstützen
sanft in die Mitte genommen, die ähnlich den Bäumen
draußen nahe an der Gebäudewand stehen. Diese tragen
das flache Dach mit der darauf befindlichen Sonnenterrasse und
sind zugleich eine Reverenz an das klassische Vierstützenhaus.
Im Obergeschoß wurde ein langgezogener
Quader, der nach hinten - weit über das Gebäude hinaussteht
und separat abgestützt wird, quer zum Grundrißrechteck
über den Kaminplatz gelegt. Er enthält den Schlafraum
der Eltern, der rückseitig eine kleine Terrasse mit einer
luftigen Treppe zur Waldwiese aufweist. Nur wenige, meist kleine
Fenster bieten Ausblick. Doch zum Himmel ist die Decke mit einer
großen Öffnung versehen, sodaß nachts die Sterne
hereinscheinen. In dem auf kantigen Pfeilern aufgeständerten
Schlafraum, von weißen Mauern geborgen und mit Bäumen
eingefaßt, den Blick zum Himmel offen, muß es sich
wundersam träumen lassen.
Als Gegenbewegung zum nach hinten vorstehenden
Quader stößt eine Balkonplatte nach vorn aus dem Volumen
heraus. Sie wird von schlanken Stahlrohren gestützt, die
mit den benachbarten Stämmen kommunizieren - ein idealer
Platz für das Frühstück zwischen Baumkronen.
Als einzige Wand des ganzen Gebäudes,
die "schräg" verläuft, wurde die mehrheitlich
gläserne Vorderfront leicht ausgedreht, sodaß man
- von rechts vorn kommend - über ein paar Stufen zur Eingangstüre
gelangt. Das Haus tritt dem Heimkehrenden gleichsam etwas entgegen:
Die Wand öffnet sich einen Spalt weit, durch den man schlüpfen
und in die Hauslandschaft eindringen kann.
Vor der Eingangstür steht als Hüterin
eine nicht mehr ganz junge Birke, deren elegant geschwungener
Stamm während der Bauzeit sorgfältig geschützt
wurde. Birken sind wegen ihres weißen Stammes recht auffallend
und treten zur Architektur stärker in Beziehung als andere
Bäume. Zudem bildet diese hier einen deutlichen Gegensatz
zu den Föhren und Fichten. Ihre Stellung nahe beim Haus
schafft eine Vorzone, die der Architekt mit einem etwas größeren
Absatz zwischen den Stufen akzentuiert hat.
Die Wohnzone des Hauses liegt hallenartig
zwischen hölzerner Küchenhütte und Kaminplatz.
Nach vorn schützt noch eine Mauerscheibe, nach hinten öffnen
sich große Glaswände zu einem Gartenhof mit Kirschbaum
und zur Waldlichtung. Auch zwischen aufgeständertem Schlafhaus
und dem nahezu schwebenden Terrassendach verläuft ein breites
Glasband. Es betont die fast gehöftartige Gliederung der
Anlage.
Im etwas niedrigeren Teil unter dem
Schlafhaus steht, breit schirmend, der Kamin. Wenn man davor
sitzt, befindet man sich einerseits fast zwischen den Bäumen,
die nahe hinter den Glaswänden stehen; andererseits ist
man doch vor Wind und Wetter geschützt.
Vor dem Kaminplatz schwingt sich eine
gewendelte Treppe nach oben zum Schlafhaus; das Tragwerk ist
als räumliche Spirale gestuft angeordneter Elemente organisiert,
die das Tragen nicht abbilden, sondern selber wieder eine Treppe
erzeugen. Treppe trägt hier Treppe, wobei das Tragen formal
meisterhaft sublimiert ist. -Das leicht nach vorn abfallende
Gelände der Waldlichtung wird von der alten Stützmauer
vorsichtig zurückgehalten, sodaß eine horizontale
Fläche entsteht. Das Wohnhaus ist nun nicht einfach mit
einem Sockel auf diesen Platz gestellt. Vielmehr steht die Platte
des Fußbodens über den konstruktiven Gebäudesockel
einen halben Meter vor und beschattet diesen, sodaß die
darüber aufsteigende Struktur zu schweben scheint.
Nur punktuell berührt das Bauwerk
die Waldwiese; flüchtig scheint es auf unterschiedlichen,
den nahen Baumstämmen verwandten Stützen hingestellt;
fallrepartige Treppen schaffen den Kontakt zum Boden; Ernst Bloch
bezeichnete derartige Bauten in seinen Ausführungen zur
Architektur als "reisefertig", als Häuser, die
wie "Schiffe Lust (haben) zu verschwinden".
Diese - architektonisch betrachtet -
temporäre Inbesitznahme der Waldlichtung durch ein Wohnhaus
ist die gestalterische Antwort des Architekten auf das weit verzweigte
kulturelle Bedeutungsfeld eines derartigen Ortes. Das im Zusammenhang
mit zeitgenössischer Architektur oft und gern verwendete
Wort "radikal" ist hier fehl am Platz, denn das Bauwerk
ist eigentlich eher verhalten; es ist feinfühlig komponiert
und perfekt materialisiert. Seine Formen sind zeitgemäß,
ohne modische Überhöhung und ausgerichtet auf visuelle
Dauerhaftigkeit.
Vor ein paar Jahren errichtete Rudolf
Prohazka ein kleines Holzhaus auf welligem Bauplatz in Ried am
Riederberg - das heute leider nach einem Eigentümerwechsel
von grober Hand entstellt wurde,- danach entwarf er ein Wohnhaus
über der Hangkante der Pötzleinsdorfer Höhe in
bester Aussichtslage; und jetzt zeigt er uns, wie er ohne falsches
Pathos - im Wald zu bauen versteht. Mag sein, daß man darin
auch Manifeste zu erkennen vermag. Ich sehe aber vor allem eines:
eminent zeitgenössische, die topographische und die kulturelle
Landschaft perfekt interpretierende Architektur.
"Die Presse"
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